Geld spielt keine Rolle

Mehr als 650 einjährige Bedingungslose Grundeinkommen hat der Verein "Mein Grundeinkommen" seit 2014 verlost und dabei eine Beobachtung gemacht, die auf großes Potenzial hinweist.

Michael Bohmeyer
24.09.2020

Nachdem sein Verein „Mein Grundeinkommen“ mehr als 650 Menschen ein Jahr lang ein garantiertes Einkommen gezahlt hat, machte Michael Bohmeyer eine überraschende Beobachtung: Die bedingungslose Auszahlung scheint wichtiger zu sein als der Geldbetrag selbst. Er vermutet dahinter den entscheidenden Hebel zur Lösung der großen Krisen unserer Zeit. 

Noch nie stand die Welt zeitgleich vor so vielen großen Herausforderungen: Die Digitalisierung verändert unsere Wirtschaftsweise so fundamental wie zuletzt die Industrialisierung, nur in höherem Tempo. Sie stellt unsere Sozialsysteme und den gesamten Nutzen des Menschen infrage. Das Internet macht alte Gräben in der Gesellschaft sichtbar und zieht neue. Obwohl wir so vernetzt sind wie nie, fehlt zunehmend eine gemeinsame Sprache. Das ist der Nährboden für populistische Bewegungen. Und als wäre das noch nicht genug, schwebt über allem die Frage: Werden wir als Menschen überhaupt noch lebensfähig sein in einer Umwelt, die wir selbst zerstört haben? 

Probleme der Zukunft scheinen übermächtig

Die Komplexität der Welt erzeugt bei immer mehr Menschen ein Ohnmachtsgefühl. PsychologInnen sprechen von der „erlernten Hilflosigkeit“: Der Überzeugung, die eigene Lebenssituation nicht mehr steuern zu können. Ein Kontrollverlust, für den man sich selbst verantwortlich fühlt. Ein Kontrollverlust, für den sie sich selbst verantwortlich fühlen. Aus dieser Hilflosigkeit erwachsen Depressionen – eine jener Erkrankungen, deren Fallzahlen in Wohlstandsgesellschaften beständig steigen. 

Gerade jetzt bräuchten wir einen klaren Kopf, um die großen Krisen an der Wurzel zu packen. Doch obwohl die Menschheit noch nie so viel Zugang zu Ressourcen und geteiltem Wissen hatte, versinken wir in wohlständiger, kollektiver Depression. Warum? 

Um das zu verstehen, muss man sich anschauen, wie Stress wirkt – für den Einzelnen und für die Gesellschaft. Die komplexe, beschleunigte und krisengeschüttelte Welt versetzt uns in einen Zustand des Dauerstress. Obwohl wir in einem wohlständigen Land leben, laufen wir in einer Art Überlebensmodus: Werde ich morgen noch so leben können, wie ich es möchte? Werde ich so arbeiten, in den Urlaub fahren, einkaufen, Auto fahren, Kinder kriegen können, wie ich es gewohnt bin? Und habe ich bei der Beantwortung dieser Fragen überhaupt noch mitzureden? Während kurzfristiger Stress hilft, Gefahrensituationen abzuwehren und Höchstleistungen zu erzielen, hemmt langfristiger Stress. Denn Entscheidungen, die wir unter Stress treffen, sind nur kurzfristig. Sie beantworten die Ängste nicht grundlegend: Damit ich meinen Job nicht verliere, strenge ich mich noch mehr an. Damit ich das durchhalte, fliege ich weit weg in den Urlaub, ignoriere oder leugne gesellschaftliche Probleme, belohne mich mit teuren Luxusartikeln, gönne ich mir rauschende Feste. Diese Taktiken des Kompensierens, Flüchtens oder Abwehrens ändern aber nichts an der grundsätzlichen Angst, unser Leben nicht selbst gestalten zu können, sondern im Gegenteil: vertiefen nur die Abhängigkeit davon, dass es so weitergeht – und damit den wahrgenommen Stress. 

Den Stress-Teufelskreis auflösen

Wie durchbricht man diesen Teufelskreis? Soll man die Ängste vor Entlassung und Arbeitslosigkeit mildern, indem man für ins Trudeln geratene Banken und Industrieunternehmen Rettungspakete schnürt? Soll man Frustkonsum eindämmen, indem man ihn moralisch verurteilt? Politische Maßnahmen drehen sich fast immer darum, die Reaktionen auf den Stress durch Sanktionen, Verbote und Anreize abzumildern, anstatt den Stress selbst zu reduzieren. Weil sich aber an den zugrunde liegenden Ursachen – der bewussten und unbewussten Existenzangst – nichts verändert, entstehen immer neue, immer schädlichere Kompensationshandlungen. 

Wir brauchen deshalb eine ganz neue politische Strategie. Wir müssen an die Ursachen ran und den Stress-Teufelskreis durchbrechen. 

Hier stiftet unser Grundeinkommens-Versuch der letzten sechs Jahre Hoffnung. Über 650 Menschen erhielten ein Jahr lang monatlich 1.000 Euro Grundeinkommen ausgezahlt, bedingungslos. Darunter waren Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft, vom Obdachlosen bis zum Millionenerben, von CSU bis Linkspartei, vom Schüler bis zur Rentnerin. Alle berichten immer wieder eine ähnliche Erfahrung: Das Sicherheitsversprechen des Grundeinkommens setzt neue Energie frei. Obwohl die EmpfängerInnen oft sogar mehr gearbeitet, gelernt oder sich engagiert haben, sank ihr wahrgenommener Stress. Ersetzt wurde er durch ein Gefühl der Selbstwirksamkeit, also dem Glauben, das Leben selbst beeinflussen und mitgestalten zu können. Mit dem bedingungslos entgegengebrachten Vertrauen eines Grundeinkommens hatten die Menschen die Möglichkeit, ihre Existenzängste genauer anzuschauen und zu reflektieren. Möchte ich wirklich so viel in diesem Job arbeiten? Was steckt hinter dem Bedürfnis nach einem Luxusartikel, einer Fern- reise? Was will ich wirklich? Sie trauten sich, kreativ und mutig ihre Lebensbahnen zu steuern – woraus wiederum neues Vertrauen erwachsen ist. Die EmpfängerInnen beschrieben dieses Gefühl ebenfalls als Kreislauf, aber als einen positiven, der noch Jahre nach dem Grundeinkommen anhielt. 

Entscheidend ist, selbst zu entscheiden

Das Geld scheint dabei nur nebensächlich zu sein. Häufig haben es die GewinnerInnen gar nicht oder nur in Teilen ausgegeben. Es war die bedingungslose Auszahlung, die zur Veränderung führte. Sie wurde wie ein Vertrauensvorschuss empfunden, wie eine Verantwortungsübertragung. Wenn mir eine anonyme Gruppe jeden Monat Geld auszahlt, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, dann liegt der Ball bei mir, dann möchte ich etwas Sinnvolles damit machen.

Die Zahlen stammen aus einer Online-Selbstauskunft unter GewinnerInnen der Grundeinkommens- Verlosungen, die 48 Menschen ausfüllten. Es handelt sich hierbei nicht um eine repräsentative oder verallgemeinerbare Erhebung, da sich der Verein bisher auf die qualitative Forschung durch Interviews beschränkt hat.

Nach sechs Jahren und Hunderten von Geschichten können wir zusammenfassen: Die Menschen konnten mit dieser Verantwortung sehr gut umgehen. Sie sind daran gereift und resilienter geworden. 

Genau diese reifen, selbstbestimmten, empathischen, selbst- und verantwortungsbewussten Menschen brauchen wir, um die großen Krisen der Welt lösen zu können. Da die Verhältnisse das Verhalten bestimmen, muss es die Aufgabe der Politik sein, Verhältnisse zu schaffen, in denen die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich alle Menschen so entwickeln können. Wir brauchen schlicht den Kopf frei, um Digitalisierung, Klimakrise und Populismus zu begegnen. 

Könnte das Grundeinkommen dafür sorgen, dass Menschen resilienter werden und aus ihnen eine resilientere Gesellschaft entsteht? Könnte es die nötige Hilfe zur Selbsthilfe sein, mit der wir die großen Aufgaben der Menschheit lösen können? Wir wissen es nicht, aber wir wollen es wenigstens probieren.


Dieser Artikel ist auch erschienen im Magazin zum Pilotprojekt.

Read this article's English version in our Basic Income Pilot Project Magazine.

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